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Westsahara - Reise an einen vergessenen Ort
Der „vergessene Krieg“
hinterlässt einen vergessenen Ort - Reise an den westlichen Rand
der algerischen Sahara, wo sich die Opfer jenes Konfliktes
befinden, der an den Rand „erhabener weltweiter
zeitgeschichtlicher Aktualität“ (Milan Kundera) verdrängt wurde.
Das Weltverständnis eines Landes bzw. eines Kontinents
manifestiert sich nicht zuletzt in jenen Weltkarten, die im
jeweiligen Land/ auf dem jeweiligen Kontinent produziert und -
für Unterrichts- und andere Anschauungszwecke - herangezogen
werden. Grundsätzlich (und das kann man in europäischen,
amerikanischen und afrikanischen Staaten gleichermaßen
nachvollziehen) betrachten sich Kontinente selbst gerne auf
ihren Weltkarten als „Nabel der Welt“: Das heißt, dass sich der
europäische, der amerikanische bzw. der afrikanische Kontinent
sozusagen als Sonnengeflecht ihrer eigenen Welt-Auffassung
abbilden und ihre tektonischen Umrisse vorzugsweise als Zentrum
der topographischen Welten-Ordnung ausweisen. Dass in diesem
Sinne eine perspektivische Vergrößerung stattfindet, entgeht
zwar allzu oft dem Auge des geometrisch unbedarften Betrachters,
ist aber nichtsdestotrotz siginifikant für den jeweiligen
Zentrismus.
Auf Weltkarten spiegelt sich nicht nur die geopgraphische Sicht
der Welt, sondern auch die politische wider. Trotz Zeitalter der
Globalisierung, in der Nationalsstaaten als obsolet betrachtet
und durch Wirtschaftszonen ersetzt werden, die sich lediglich
durch ihre Wirtschaftsdaten voneinander unterscheiden, sind alle
Weltkarten dieser Erde gekennzeichnet durch die Aufteilung der
Welt in Nationalstaaten. Diese Welt sei für alle gleich, egal ob
man sich nun auf dem afrikanischen, dem amerikanischen oder dem
europäischen Kontinent befindet (der natürlich jeweils im zuvor
skizzierten Sinn hervorgehoben ist)?
Aus eurozentrischer Sicht habe ich Ende Dezember/ Anfang Jänner
ein Land besucht, das im Grunde nicht existiert. Diese Republik
befindet sich auf keiner europäischen Weltkarte und existiert
demnach dem europäischen Weltverständnis nach nicht als
autonomer Staat. Von bislang 76 vorwiegend afrikanischen Staaten
anerkannt (zuletzt 1995 von Südafrika) wird die Republik
Westsahara auf den meisten europäischen Weltkarten (lediglich
das ehemalige Jugoslawien hat die Republik Westsahara offiziell
anerkannt) dem Königreich Marokko zu- und also untergeordnet.
Westsahara, Konflikt - schon einmal gehört? Ja, irgendwas mit
Marokko und Algerien, irgendwo da unten - là bas. Aber jetzt
hört man nichts mehr davon - oualou.
Abwarten...
Es ist auch ruhig dort, là bas, im äußersten Süd-Westen
Algeriens. Die Wüsten-Landschaft ist unspektakulär und
dementsprechend unattraktiv für Wüste-Touristen. In dieser
kargen Landschaft haben lediglich offizielle Delegationen (der
UNO sowie anderer nationaler und internationaler
Hilfsorganisationen) als Anreisende und natürlich die dort
ansässigen Menschen etwas verloren: nämlich ihr Land. Seit über
dreißig Jahren leben dort, là bas - ca. 80km westlich der
algerischen Stadt Tindouf, ca. 173.000 sahaurische Flüchtlinge.
Seit der Invasion Marokkos auf dem von ihnen beanspruchten
Gebiet und dem Ausbruch des offenen Konflikts zwischen Marokko
und der 1975 gegründeten Polisario Front (Frente Popular para la
Liberacion de Saguia el Hamra y Rio de Oro) warten die in diesem
vorwiegend von der UNHCR (United Nations High Commission for
Refugies) betreuten Flüchtlingscamp lebenden Menschen darauf,
ihr Land zurückzubekommen. Die Strategien, mit denen die
Polisario das Territorium ihrer am 27. Februar 1976 ausgerufenen
Republik Westsahra zurückbekommen möchte, haben sich im Laufe
der vergangenen dreißig Jahre geändert. Während Anfang der 70er
Jahre, als Marokko (unter König Hassan II) und damals auch noch
Mauretanien das den Sahauris von den ehemaligen spanischen
Kolonialherrn versprochene Gebiet für sich beanspruchten, die
Polisario - unterstützt von Algerien - mit Waffen und Gewalt ihr
Recht zu verteidigen suchte, setzte sie Anfang der 90er Jahre
vorwiegend auf die Anerkennung ihrer Republik durch die UNO.
Über die Modi dieser Anerkennung allerdings wird heute noch
verhandelt. Die 1991 initiierte Mission der Vereinten Nationen
für das Referendum in Westsahara (MINURSO) bemühte sich um einen
Kompromiss zwischen der Polisario und Marokko hinsichtlich der
Abstimmungsmodalitäten: Marokko bestand darauf, dass lediglich
jene Bewohner zum Referendum zugelassen werden, die nach 1976
das Gebiet der Westsahra besiedelten. Die Polisario hingegen
wollte ausschließlich jene Menschen über die Zugehörigkeit des
Landes befragen, die vor 1976 auf diesem Territorium lebten. Der
Grund für diese divergierende Auffassung des zu vergebenden
Stimmrechts lag in der Mitte der 70er Jahre beginnenden
Siedlungspolitik Marokkos: Marokkanische Staatsbürger sollten
sich das Gebiet Westsahara in zivilisatorischem Sinn untertan
machen. Die Bemühungen der MINURSO scheiterten also am
Widerstand der beiden Konfliktparteien. In weiterer Folge
bemühte sich der UNO-Sonderbeauftragte James Baker um eine
Lösung: Der sogenannte Baker-Plan zur Lösung des Westsahara
Konflikts beinhaltet im Wesentlichen vier Optionen, wobei zwei
dieser Optionen zufolge der UN-Sicherheitsrat hinsichtlich
Aufteilung des Gebietes konsultiuert und die beiden
Konfliktparteien ausgeklammert werden sollten. Nach dem sich
jedoch der UN-Sicherheitsrat auf keine der vier ausgearbeiteten
Optionen einigen konnte, versuchte James Baker anhand eines 2003
präsentierten „Peace Plan for Selfdetermination of the People of
Western Sahara“ Konditionen für ein Referendum auszuverhandeln:
Im Rahmen einer vier- bis fünfjährigen Übergangsphase sollte der
Westsahara umfassende Autonomie eingeräumt werden. Lediglich die
außenpolitische Repräsentation, die Verteidigungspolitik sowie
die Kontrolle der Waffen und Sprengmittel sollte Marokko
obliegen. In weiterer Folge sollte - nach der erwähnten
Übergangsphase - schließlich das seit 1991 in Betracht gezogene
Referendum über die Zugehörigkeit des Gebietes stattfinden. Die
bislang stets umstrittenen Abstimmungsmodalitäten (Stimmrecht)
allerdings wurden auch in diesem Rahmen nicht geklärt.
Implementiert wurde dieser zuletzt von Baker eingebrachte
Vorschlag aufgrund des Widerstands einiger involvierter Parteien
nicht. Im Gegensatz zur Polisario stimmte Marokko diesem Plan
nicht zu. Nachdem James Baker als UN-Sonderbeauftragter
abgezogen wurde, dient sein „Peace Plan“ als Grundlage für
weitere Verhandlungen bzw. Lösungsvorschläge im
UN-Sicherheitsrat.
De facto besteht aber momentan wenig Aussicht auf ein
Zustandekommen des Referendum: Marokko und Algerien (als
wichtigster und tatkräftigster Unterstützer der Polisario)
tragen ihre seit dem Kalten Krieg mehr oder weniger latent
vorhandenen außenpolitischen Querelen unter dem Vorwand ihrer
Interessen an bzw. in der Westsahra aus. Algerische
Tageszeitungen zitieren die Kritik des marokkanischen Königs
Mohammed VI an der Polisario-Politik Algeriens, um anhand einer
manchmal recht abenteuerlichen Argumentation ihrerseits das die
Entwicklungen in der Westsahara blockierende Agieren und
Agititieren Marokkos aufzuzeigen. Algerien und Marokko üben sich
also lediglich im gegenseitigen Vorwurf einer kontraproduktiven
Politik hinsichtlich Westsahara. Dem UN-Sicherheitsrat und der
MINURSO (deren Mandat in Anbetracht der noch ausstehenden Lösung
des Konflikts verlängert wurde) kann momentan ebenfalls keine
besonders konstruktive Rollen zur Lösung des
Westsahara-Konflikts zugesprochen werden: Die amibitionierten
Bemühungen James Bakers scheinen nun im Sand zu verlaufen. Auch
die Polisario agiert ihreseits nicht immer taktvoll dem
UN-Sicherheitsrat gegenüber: Mangelnde Transparenz der ihreseits
zur Abstimmung in die UN-Generalversammlung eingebrachten
Vorschläge verstimmen auch jene Delegierten, die einer Autonomie
der Westsahara an sich wohlwollend gegenüberstehen.
Diese Transparenz über die politische Lage bzw. deren Aussichten
scheint auch für die in den Flüchtlingslagern lebenden
Bevölkerung unzugänglich bzw. nicht mehr von Interesse zu sein.
Es wird uns gegenüber stets von einem unbestimmbaren Zeitraum
namens „nach der Unabhängigkeit„ gesprochen, in dem sich „alles“
ändern wird. Wann und vor allem was sich alles ändern wird,
wurde uns allerdings nicht verraten. Die Menschen, denen seitens
Algerien ein Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde und die also ohne
Staatszugehörigkeit sind, verharren in diesem Sinne in einem
zumindest offiziell deklarierten „Prinzip Hoffnung“. Wieviele
der bereits in dritter Generation in den Lagern um Tindouf
lebenden Sahauris tatsächlich noch an eine mögliche Autonomie
ihrer Republik glauben, lässt sich nicht sagen.
Und Tee trinken
Empfangen wird man von der Polisario recht selbstverständlich:
Nach der Ankunft am Flughafen in Tindouf taucht ein Mann auf,
erblickt uns und ruft uns fragend: Nemsja? entgegen. Nachdem
unsere Herkunft durch Nicken - Nemsja heißt Österreich auf
Arabisch - geklärt wurde, wurden wir ohne weitere Fragen oder
Erklärungen in einen Jeep verfrachtet und sozusagen in die Wüste
gefahren. Nach ca. 45 Minuten Fahrzeit mussten wir uns doch
Erleichterung darüber eingestehen, dass wir irgendwo angekommen
sind. Dieses Irgendwo wurde uns als „Protocollo“ - als
Verwaltungszentrale der vier Wilayas (Bezirke), in die das
Flüchtlingscamp eingeteilt ist, vorgestellt. Im Protocollo
werden auch die zahlreichen ausländischen Delegationen
untergebracht, die entweder als Beobachter oder als Initiatoren
bzw. Betreuer verschiedener, vor Ort durchgeführter Projekte
tätig sind. Die häufigen Besuche von ausländischen Delegationen
erklären sich aus dem Umstand, dass die Versorgung und
Instandhaltung des Camps in materieller Hinsicht ausschließlich
von internationaler Hilfe bzw. Hilfsgütern abhängt.
Dementsprechend zuvorkommend - in jeglicher Hinsicht: also auch,
was den richtigen, d.h adäquaten Eindruck betrifft, den man
„mitnehmen“ soll - wird man als ausländischer Gast behandelt.
Auf dem Gelände des Protocollo, das sich in Rabouni - in jener
Wilaya, die man wohl als Hauptstadt bezeichnen kann - befindet,
treffen wir auf Spanier, die als Trainer für Spanischlehrer bzw.
als Ärzte hier tätig sind, und auf ein amerikanisches Pärchen,
das einen dreiwöchigen Forschungsaufenthalt: Refugies-Studies.
zum Zeitpunkt unserer Ankunft fast schon hinter sich hat und
sich eigenen Angaben zufolge „auf nichts mehr freut, als auf
eine warme Dusche“.
Die ersten zwei Tage verbringen wir im Protocollo - Tee trinkend
und rauchend. Tee trinken ist hier kein Mittel zum Zweck (etwa
um sich aufzuwärmen) sondern ein langwieriges Procedere: Grüner
Tee wird mehrmals erwärmt (aber: nur ein einziges Mal
aufgekocht), unzählige Male von einem Teeglas ins andere bzw.
wieder zurück in die Kanne geschüttet, um schließlich in drei
Etappen getrunken zu werden: Vor jedem Glas Tee wird diese
durchaus sehenswerte Prozedur wiederholt, allerdings mit
zunehmenden Zuckergehalt, was sich angesichts der Unmengen an
Zucker, die bereits beim ersten Aufguss Platz in der
traditionell kleinen Kanne finden müssen, als picksüßer Traum
(für manche auch: Alptraum) herauskristallisiert. Bitter - wie
das Leben; süß - wie die Liebe, und sanft - wie der Tod soll der
Tee einem sahaurischen Sprichwort zufolge munden. Für meinen
Geschmack ist bereits das Leben (also der erste Aufguss) viel zu
süß... Jedenfalls ist es selbstverständlich für sahaurische
Gastgeber, Tee zu servieren und es ist ebenso selbstverständlich
für ihre Gäste, alle drei Gläser Tee zu trinken.
Obwohl die meisten Sahauris Muslime sind, herrscht offenbar ein
lockerer Umgang mit sogenannten Genussmitteln: Ich werde
gefragt, ob ich denn auch Whisky für die Silvester-Feier
mitgebracht hätte. Auch ist es mir dort - im Gegensatz zu Oran -
durchaus möglich, öffentlich meine Zigaretten zu genießen. Als
Erklärung für diesen für meine (europäischen) Begriffe
unkomplizierteren Habitus wird die Vertrautheit mit spanischer
und kubanischer Lebensweise angeführt. In diesem Sinne werden
auch meine, vom europäischen Lebensstil geprägte
Erwartungshaltungen hinsichtlich bestimmter Lebens-Gewohnheiten
bedient. A propos Erwartungshaltungen: Während dieser ersten
zwei Tage, die wir gezwungenermaßen im Protocollo verbrachten,
hatten wir die Gelegenheit jene Vorstellungen zu reflektieren,
die wir uns a priori von unserer Reise in ein über 30 Jahre lang
bestehendes Flüchtlingslager gemacht haben.
Fremd bei
sich zu Hause...
Flüchtlingslager fungieren - unserem herkömmlichen Verständnis
nach - als provisorische Aufenthaltsorte für Menschen, die aus
bestimmten Gründen ihre Heimat verlassen mussten. Demnach
basiert die Organisation dieser Aufenthaltsorte vor allem auf
der Prämisse, soviele Menschen wie möglich so schnell wie
möglich unterzubringen - unter Absicherung allgemeiner
Grundbedürfnisse und unter Gewährleistung medizinischer
Versorgung. Wenn solch ein an und für sich provisorischer
Aufenthaltsort allerdings der einzige Ort ist, an dem man sein
ganzes Leben verbringen kann, wird dieser Ort zum manifesten
Inhalt jener Bezeichnung, die eigentlich gerade darauf verweisen
sollte, wo man sich - als Flüchtling - nicht mehr bzw. noch
nicht befinden kann: in der Heimat.
Die Menschen, die momentan bereits in dritter Generation in
einer der vier Wilayas des sogenannten Flüchtlingscamps leben,
haben ihr zu Hause in einem der gedungenen, vor der Hitze (im
Sommer kann die Quecksildersäule bis zu 50 Grad Celsius
anzeigen) Schutz bietenden Lehmhäuser. Das Heim einer
durchschnittlichen sahaurischen Familie umfasst, genauer gesagt,
drei bis vier kleine Lehmhäuser und ein Nomadenzelt: Küche,
Abort, Schlafplatz und Aufenthaltsraum sind in dieser Form
voneinander getrennt. Zumeist fungiert eine ca. einen Meter hohe
Lehmmauer im Kreis dieser Wohnräume als Ziegenstall.
Für das Volk der Sahauri ist dieser Ort auf algerischem
Staatsgebiet tatsächlich lediglich ein provisorischer
Aufenthaltsort. Seine Heimat ist von Marokko okkupiert und steht
ihm deshalb noch nicht zur rechtmäßigen Verfügung. „Wir bebauen
dieses Land nicht, obwohl Landwirtschaft auf diesem Boden
möglich wäre. Es ist ja nicht unser Land, es gehört Algerien.
Unser Land werden wir bebauen,“ meint ein sahaurischer Mann und
lädt uns daraufhin ein, zwei Tag bei ihm und seiner Familie zu
verbringen: „Ich bin sehr stolz auf mein zu Hause. Ich habe es
selber gebaut und dank ausländischer Spenden konnte ich es auch
schön einrichten.“
Diese Diskrepanz zwischen persönlichem und ethnischem bzw.
nationalem Zugehörigkeitsgefühl manifestiert sich auch in den
vorhandenen Strukturen sowie in deren Repräsentation. Sowohl in
topographischer, als auch in sozioökonomischer Hinsicht sind
ausdifferenzierte Strukturen etabliert worden. Präsentiert
werden diese aber stets als „Provisorium“, das den Bedürfnissen
der ansässigen Bevölkerung eben bis zu jenem unbestimmten
Zeitpunkt „der Unabhängigkeit“ Rechnung tragen soll. Die vier,
bis zu 150 km voneinander entfernt liegenden Bezirke (die Wilaya
Dajla liegt 150 km von der Zentrale Rabouni entfernt) sind
ihrerseits wiederum in vier oder fünf Dairas
(Verwaltungsbezirke) gegliedert, wobei auf zwei Dairas eine
Grundschule kommt. Während Grund- und Mittelschule gleichsam vor
Ort - also in der jeweiligen Daira - absolviert werden können,
gehen sahaurische Studenten für ihre Hochschulbildung ins
Ausland: Zumeist nach Kuba oder Spanien, manche auch nach
Deutschland. Berufsschulen bieten Frauen spezifische
Ausbildungen in verschiedenen adminsitrativen Bereichen bzw. als
Weberin, als Kindergärtnerin oder als Krankenschwester. Männer
werden in diesen Schulen zu Mechanikern, Bäckern, Schlossern
usw. ausgebildet. Neben den praktischen Modulen, werden auch
Fremdsprachen unterrichtet. Ob und in welcher Form der
Fremdsprachenunterricht stattfinden kann, hängt den Angaben der
Direktorin der Mädchenschule „27fêrerro braro“ (der 27. Februar
ist der Nationalfeiertag der Sahauris), Fatima Mohemed, zufolge
davon ab, von welchem Land Sprachlehrer entsandt werden. Diese
Berufsschulen mit verschiedenen Schwerpunkten bzw.
Ausbildungsmodulen befinden sich über die vier Wilayas
verstreut: Je nach Bedarf werden von den einzelnen Wilayas
Frauen oder Männer in diese Schulen geschickt. Die Anzahl der
Schülerinnen bzw. Schüler hängt also davon ab, wieviele
Kindergärtnerinnen bzw. wieviele Mechaniker von den Wilayas
jeweils „benötigt“ werden, um die bestehenden Strukturen - etwa
das Nahversorgungssystem - aufrechtzuerhalten bzw. gegebenfalls
auszubauen. Neben den Grund- und Berufsschulen wurden auch
Sonderschulen in den Wilayas eingerichtet: Speziell im Ausland
ausgebildetete Sonderpädagogen betreuen Buben und Mädchen, denen
Handicaps verschiedener Art diagnostiziert wurden. Gearbeitet
wird in diesen Sonderschulen Ressourcen orientiert: Das heißt,
dass primär die bereits entwickelten bzw. veranlagten
Fähigkeiten der Schüler in Betracht gezogen und in weiterer
Folge gefördert werden.
Wo man Fremde
gerne aufnimmt
Der hohe Stellenwert, der Bildung seitens der Sahauri offenbar
zugeschrieben wird, manifestiert sich einerseits vor Ort, also
in den zumeist sehr freundlich und mit Lehrmaterialien gut
ausgetstatteten Einrichtungen. Andererseits wird unserem Wunsch,
Schulen zu besuchen, wiederum ausgesprochen zuvorkommend statt
gegeben. Nach den zwei Tagen im Protocollo in Rabouni wurde das
von uns vorgeschlagene „Programm“ offiziell genehmigt und wir
durften uns in Begleitung eines deutschsprachigen Reiseführers
auf den Weg machen. Die Präsentation der verschiedenen
Bildungseinrichtungen in den Wilayas Rabouni und Aion basierte
wiederum auf der zuvor erwähnten Dialektik: Ein als eigene
Errungenschaft präsentiertes institutionelles Provisorium,
dessen Errichtung einerseits ausschließlich durch internationale
Hilfe ermöglich wurde, dessen für „europäische Begriffe“ aber
unzulänglicher Zustand andererseits eben auf den provisorischen
Charakter zurückzuführen ist: Ja, ja - wir wissen schon: Nach
der Unabhängigkeit wird alles endgültig aufgebaut und
institutionalisiert werden...Da wir auch unser Interesse für die
vorhandene medizinische Infrastruktur bekundet haben, führt uns
unser programmatisch vorgegebener Weg in das Krankenhaus in
Rabouni: Den Ausführungen eines jungen Arztes zufolge fungiert
das Krankenhaus „Bachir Saleh“ als administrative und
medizinische Zentrale für das gesamte Gebiet, also für alle vier
Wilaya. Auf dem Rundgang sehen wir einerseits, dass die
Kapazitäten dieses Krankenhauses sowohl die übliche
Grundaustattung (Chirurgie, Pädiatrie, Interne usw.) als auch -
draüber hinausgehend - eine gut ausgestattete Notaufnahme, eine
Zahnambulanz, ein Labor, Physiotherapie sowie eine
Veterinär-Station umfassen. Andererseits lernen wir, dass die
Vorschriften für Besucher in diesem Krankenhaus nicht ganz so
streng gehandhabt werden wie „bei uns“: In einem Zimmer, das uns
zu illustrativem Zweck zugänglich gemacht wurde, finden wir eine
sahaurische Familie, die offenbar versucht, einem stationär
behandelten Mitglied die Zeit zu vertreiben: Auf Kohlen Tee
kochend und sich lautstark unterhaltend. Der junge Arzt, der uns
auf unserem Rundgang begleitet hat, erzählt uns, nicht bei
einer, sondern wie gewohnt: bei drei Tassen Tee, dass er sein
Medizinstudium in Deutschland absolviert hat. Er hat dort auch
die „Liebe seines Lebens“, sowie sein Kind zurück lassen müssen.
Wieso? Er habe ständig von seiner Heimat, der Wüste geträumt und
habe es im Endeffekt nicht ausgehalten, ohne diese wunderbare
Umgebung zu leben. Klingt wie dem Reiseprospekt „Wüsten-Zauber“
entnommen. Na ja, nach dem Abschluss seiner Ausbildung habe er
schlicht und einfach kein Recht mehr gehabt, sich weiterhin in
Deutschland aufzuhalten. Das klingt wie die zynische
gesellschaftspolitische Realität in manchen Ländern Europas.
Der freundlichen Einladung unseres Reisebegleiters folgend
verbringen wir zwei Tage in der Wilaya Aion. Das Programm
unseres Aufenthaltes in Aion umfasst - neben der nur mit Hilfe
des „arabischen Telephons“ zu lösenden Aufgabe, am Abend Brot
für das Essen (vorwiegend Kamelfleisch - das man unbedingt mit
Vorsicht, also in Maßen, genießen sollte, insofern man nicht
daran gewöhnt ist) zu besorgen - auch ein Picknick, nun, nicht
gerade im Grünen, aber jedenfalls außerhalb der Stadt. Wir
verbringen also einen schönen Nachmittag mit der Familie unseres
Gastgebers im Sand: -dünen, -spiele und Sand im Tee.
Selbstverständlich...
Diese Art der Gastfreundschaft ist für die Sahauri in zweierlei
Hinsicht selbstverständlich: Einerseits entspricht diese
freundliche Offenheit Anderen bzw. Fremden gegenüber dem
sahaurischen Lebensstil. Andererseits ist der Umgang mit
Fremden, d.h. einem anderen kulturellen Habitus Folgenden,
integraler Bestandteil jenes Selbstverständnisses, das
seinerseits die Identität der in dem Gebiet um Tindouf
ansässigen sahaurischen Bevölkerung mitkonstituiert. Die primär
materielle Abhängigkeit von internationalen Hilfsgütern
impliziert in weiterer Folge kulturelle Interferenzen zwischen
„der“ sahaurischen und „der“ europäischen und amerikanischen
Kultur: Der Empfang ausländischer Delegationen ist für die
Polisario nicht nur in materieller Hinsicht eine Notwendigkeit;
ausländische Besucher fungieren außerdem als Vermittler zwischen
einer internationalen Gemeinschaft - also den Anderen - und der
sahaurischen Bevölkerung. Diese Vermittlung soll die Anderen die
Lage der Sahauri nicht vergessen lassen: Für die „erhabene
weltweite zeitgeschichtliche Aktualität“ nicht mehr von
Interesse (und also nicht mehr in den Schlagzeilen der
internationalen Presse) basieren konkrete Initiativen vor allem
auf diesem Austausch. Das bedeutet für die Polisario, dass sie
sich grundsätzlich gut mit den Anderen - also den Delegationen
einer internationalen Gemeinschaft - verstehen muss. Dieses
Verständnis rekurriert einerseits auf das zu Präsentierende -
also auf die bestehenden Strukturen - und andererseits auf die
Repräsentation der sahaurischen Bevölkerung - also auf den
Umgang mit den Anderen. In diesem Sinne ist das „Programm“, das
ausländischen Gästen offeriert wird, zu betrachten. Es werden
Erwartungshaltungen bedient, die seitens der Polisario als
„europäisch“ bzw. „amerikanisch“ betrachtet werden. Die während
unserers Aufenthaltes mehrmals hervorgehobene Bedeutung der
Ausbildung von Frauen. Die Frage nach der Whisky-Flasche. Dieser
Umgang und das aus diesem resultierende Verständnis der Anderen
bzw. deren Erwartungshaltungen wird in den sahaurischen Habitus
integriert und somit in weiterer Folge konstitutiver Bestandteil
der Identität der Bevölkerung.
Sprechen wir
Ihre Sprache
So werden etwa Sprachkenntnisse als symbolisches Kapital
betrachtet, das man einerseits im Umgang mit den ausländischen
Delegationen einsetzen kann, dem aber andererseits auch Wert
innerhalb der eigenen Gemeinschaft zugeschrieben wird. Die
Muttersprache ist Hasania (Arabisch mit Lehnwörtner aus der
sahaurischen Nomadensprache), die Amts- und Bildungssprache ist
Arabisch, selbstverständlich wird Spanisch gesprochen und
selbstverständlich sind weitere Fremdsprachen von Bedeutung. Der
junge Arzt, der sein Studium in Deutschland absolviert hat und
fließend Deutsch spricht. Unser Begleiter und Gastgeber, der uns
auf Deutsch durch unser „Programm“ führt. Sahaurische
Kindergärtnerinnen werden in Hartberg bei Wien ausgebildet.
„Österreich unterstützt schon seit langem das Grundschul- und
Kindergartenwesen“ wird uns von offizieller Seite mitgeteilt.
Diese die materielle Existenz der Bevölkerung und die -
provisorische - Institutionalisierung der Polisario sichernden
Wechselbeziehungen implizieren in dieser Hinsicht eine sich aus
verschiedenen kulturellen Aspekten konstituierende
gesellschaftliche Identität.
Die politische Ich-Setzung der Polisario hingegen wurde von den
meisten Ländern, die die selbstverständlich empfangenen
Delegationen entsenden, nicht anerkannt. Das politische
Selbstverständnis konstituiert sich demnach nicht durch den
Umgang mit den Anderen, sondern im Gegenteil: durch die
Unabhängigkeit von den Anderen - von Marokko. Als Signifikant
für dieses Selbstverständnis der Nation Westsahara ist in etwa
das Militärmuseum in Rabouni zu betrachten: Marokkanische Waffen
und Fahrzeuge, ein von den sahaurischen Partisanen
abgeschossenes marokkanisches Militärflugzeug, Personalausweise
und Führerscheine marokkanischer und mauretanischer Soldaten,
die gefangenen genommen oder hingerichtet wurden...Im Krieg
gegen die marokkanische Besatzungsmacht manifestierte sich der
Wille der Polisario zur Unabhängigkeit, zur politischen
Ich-Setzung. In der Repräsentation dieses Krieges nach der
politischen Ich-Setzung (der Ausrufung der Republik Westsahara
1976) spiegelt sich die momentan einzig mögliche Konstituente
dieser nationalen Identität wider: Die unbedingte Abgrenzung
bzw. Destruktion von den Anderen. Diese wiederum entspricht
einer ausschließlichen Abhängigkeit vom Anderen: Wird die eigene
nationale Identität nur dadurch begründet, sich von dem anderen
Land abzugrenzen, ist die Existenz des anderen für die
Konstitution der eigenen Nation unbedingt notwendig.
In diesem Sinn wird der Polisario bzw. der sahaurischen
Bevölkerung in vielerlei Hinsicht kein Platz eingeräumt: Weder
für ein nationales Selbstverständnis, noch für ein Verständnis
des Fremden bzw. des Anderen aus eigener Perspektive, noch für
ein zu Hause in der Heimat. Das gilt es nicht zu vergessen, auch
wenn unserem europäischen Weltverständnis nach dieses Land gar
nicht existiert.
Bilder: Karlheinz Staudinger
Herkunft:
http://www.fm5.at/Westsahara%20-%20Reise%20an%20einen%20vergessenen%20Ort/
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